Organisierte Ausbeutung mittels Scheinarbeitsverträgen in Bremerhaven
Im März 2016 wurde eine großangelegte kriminelle Struktur in Bremerhaven mit dem Zweck illegaler Ausbeutung mittels Sozialleistungsbetrug bekannt. Mehr als 1000 Menschen aus Bulgarien wurden von einem Netzwerk aus Vereinen in Bremerhaven mit Scheinarbeitsverträgen versorgt und in unbekanntem Ausmaß irregulären Ausbeutungsverhältnissen zugeführt. Zusätzlich wurden leistungslose Zahlungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket erschlichen. Meldungen über diesen Sachverhalt gingen spätestens seit Sommer 2014 beim Bremerhavener Magistrat ein. Eine offizielle Strafanzeige gegen die OrganisatorInnen wurde erst ein volles Jahr später gestellt. Die politische Aufklärung in der Stadtverordnetenversammlung verläuft bislang äußerst unbefriedigend. Radio Bremen schrieb in diesem Zusammenhang zur Sitzung der Stadtverordnetenversammlung zutreffend von „Grantz‘ Schweigestunde“; der zuständige Dezernent war im Urlaub.
Die organisierte Ausbeutung von Migrant*innen aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten ist kein neues Phänomen. Schon Anfang 2014 erklärte der Senat:
„Zugleich geben Beobachtungen der Polizei Anlass zur Annahme, dass Arbeitssuchende sich als Tagelöhner auf Baustellen etc. anbieten. Es ist zu vermuten, dass im Hintergrund Vermittler und Auftraggeber an der allgemeinen Lebenssituation der Menschen verdienen, indem sie sie in ausbeuterischer Weise beschäftigen bzw. dieser Beschäftigung zuführen“ (Seite 21 der Vorlage 95/14 für die Sitzung der staatlichen Deputation für Soziales, Kinder und Jugend am 13.03.2014).
Es ist davon auszugehen, dass der aktuelle Sachverhalt groß angelegt und entsprechend aufwendig vorbereitet und organisiert wurde. Umso fragwürdiger ist es, auch angesichts der eben zitierten Kenntnislage des Senats von 2014, dass diese Struktur in Bremerhaven offensichtlich unbehelligt tätig sein konnte.
Häufig stehen ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse auch im Zusammenhang mit ausbeuterischen Wohnungsvermittlungen, wo Menschen auf engstem Raum zu sittenwidrigen Mieten untergebracht werden. Sprachliche Hürden und die Unkenntnis der Ausgebeuteten über die Rechtslage in Deutschland machen es häufig schwierig, gegen Organisationen wie im aktuellen Fall vorzugehen. Eine Säule des Geschäftsmodells besteht darin, dass sich die Betroffenen nur selten wehren können.
Profitiert haben von diesem kriminellen Geschäft nicht nur die beiden Vereine und Einzelpersonen, die derzeit im Fokus der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen stehen. Profitiert haben von der Notlage dieser Menschen auch Unternehmen, die Arbeitskräfte weit unter Mindestlohn und ohne Gesundheits- bzw. Arbeitsschutz ausgebeutet haben sollen.
Der Senat ist nach §147 Landesverfassung zuständig für die Kommunalaufsicht. Darüber hinaus gibt es unterschiedliche Landesbehörden, denen ein solch drastischer Missstand hätte auffallen müssen bzw. die schneller hätten reagieren müssen, nachdem sie davon Kenntnis hatten. Es gilt politisch aufzuklären, an welchen Stellen Behörden versagt haben.
Aktuellen Veröffentlichungen und Berichten ist außerdem zu entnehmen, dass imm Zuge der Enthüllungen pauschal allen Menschen, die sich in den Akten der Vereine finden, die Leistungen nach SGB II gestrichen wurden. Viele sind bereits aus ihren Wohnungen verdrängt worden, halten sich aber nach wie vor in Bremerhaven auf. Es handelt sich hierbei zumeist nicht um Alleinstehende, sondern um größere Familien, die nun auf der Straße leben müssen. Die Not dieser Menschen ist eklatant und erfordert staatliches Eingreifen, insbesondere mit Hinblick auf mögliche Kindeswohlgefährdung.
Auf Grund des besonderen öffentlichen Interesses und der sich bereits abzeichnenden prekären humanitären Lage der Betroffenen (drohende Obdachlosigkeit, Kindeswohlgefährdung), beantragen wir zugleich die Beantwortung innerhalb von drei Wochen gemäß § 29 Abs. 2 Satz 2 der Geschäftsordnung der Bremischen Bürgerschaft.
Wir fragen den Senat:
Chronologie der Abläufe und Informationsflüsse
1. Welche Landesbehörde war zu welchem Zeitpunkt über welchen Sachverhalt im Zusammenhang mit der organisierten Ausbeutung mittels Scheinarbeitsverträgen in Bremerhaven informiert? Ab wann waren die jeweils zuständigen SenatorInnen über die Vorgänge informiert?
2. Welche konkreten Maßnahmen wurden von welcher Behörde zu welchem Zeitpunkt getroffen?
3. Zu welchem Zeitpunkt lagen beim Senator für Arbeit Hinweise vor, dass Zuwanderer aus Südosteuropa in ungesicherten, informellen und ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen in Bremerhaven tätig sind, und welche konkreten Maßnahmen wurden mit welchem Ergebnis daraufhin eingeleitet?
4. Wurde im Senat erörtert, im Rahmen der Kommunalaufsicht nach §147 Landesverfassung die Rechtmäßigkeit des im Zusammenhang stehenden Verwaltungshandels in Bremerhaven zu kontrollieren? Falls es zu solchen Erörterungen gekommen ist: mit welchem Ergebnis?
Zuständigkeiten und beteiligte Stellen
5. Ist es zutreffend, dass sich der Zoll ursprünglich für nicht zuständig erklärt hat? Sind dem Senat die Gründe hierfür bekannt, und teilt der Senat diese Begründung? In welchem Umfang bringt sich der Zoll gegenwärtig in die Ermittlungen ein?
6. Wurde zur Aufklärung des Sachverhalts eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe o.Ä. eingerichtet, um mögliche gewerbeaufsichtsrechtliche, ordnungsrechtliche polizeirechtliche und strafprozessuale Maßnahmen gegen die Auftraggeber zu koordinieren? Welche Ressorts und Behörden sind an dieser Koordinierung beteiligt, und wie oft tagt diese Runde?
7. Teilt der Senat die rechtliche Auffassung des Bremerhavener Sozialamtes, für die betroffenen Menschen nicht mehr zuständig zu sein, sobald der Leistungsbezug nach SGB II beendet wurde? Wie lässt sich diese Haltung des Bremerhavener Sozialamtes mit der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH und des Bundesverfassungsgerichts vereinbaren?
8. In welchem Umfang erhielten die Vereine ‚Agentur für Beschäftigung und Integration‘ und ‚Gesellschaft für Familie und Gender Mainstreaming‘ öffentliche Gelder und für welche Projekte?
9. Seit dem 13.03.2014 wurden ‚Studienreisen‘ in die bulgarische Stadt Varna geplant, mit dem Ziel, ein ‚Beratungsbüro‘ im Zusammenhang mit der Akquise von ESF-Mitteln aufzubauen. Welche Institutionen waren an diesen Reisen konkret beteiligt? Wurden im Rahmen dieser ‚Studienreisen‘ tatsächlich ESF-Projekte oder vom Bund geförderte Programme realisiert oder akquiriert und wenn ja: welche Projekte unter wessen Trägerschaft (vgl. Seite 18 der Vorlage 95/14 für die Sitzung der staatlichen Deputation für Soziales, Kinder und Jugend am 13.03.2014)?
Humanitäre Lage der Betroffenen, drohende Obdachlosigkeit und Kindeswohlgefährdung und behördliches Handeln und Unterlassen
10. Für mittellose Zugewanderte ist die Gewährung von unabweisbaren Hilfen als Ermessensleistung nach dem SGB XII auch dann zu prüfen, wenn die Ausschlusstatbestände in § 23 Abs. 3 SGB XII erfüllt sind. Ist dem Senat bekannt, ob diese unabweisbaren Hilfen – etwa im Fall drohender oder bestehender Obdachlosigkeit und einhergehender Kindeswohlgefährdung – in Bremerhaven im Einzelfall geprüft und gewährt werden? Steht der Senat hierüber in einem Dialog mit den zuständigen Stellen in Bremerhaven, und wenn ja: mit welcher Zielsetzung?
11. Liegen dem Senat Informationen vor, wonach Beratungsstellen und Lehrkräfte bereits Erscheinungen von Mangelernährung bei Kindern festgestellt haben?
12. Werden die gesetzlichen Vorgaben der Jugendhilfe – insbesondere Schutz des Kindeswohls in §8a und Hilfen zur Erziehung in §§27 des SGB VIII – bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen nach Kenntnis des Senats eingehalten und inwiefern wird der Senat im Sinne des Kindeswohls in diesem Sachverhalt ggf. unterstützend oder proaktiv tätig?
13. Teilt der Senat die öffentlich geäußerte Absicht des Magistrats, dass die von der kriminellen Ausbeutung Betroffenen möglichst schnell ausreisen oder sogar ausgewiesen werden sollen (Pressemitteilung des Magistrats vom 7. März 2016)? Welche Auswirkungen erwartet der Senat für das Ermittlungsverfahren, wenn die beteiligten Ämter systematisch Anreize zur Ausreise von möglichen (Belastungs-)ZeugInnen setzen? Entsteht aus diesem Vorgehen ein Verfahrenshindernis für die laufenden Ermittlungen, etwa im Sinne der Verdunkelungsgefahr?
14. Sieht der Senat die Notwendigkeit, vor allem im stark betroffenen Stadtteil Lehe bei der Bereitstellung sozialer Infrastruktur, Dienstleistungen und Beratungen zu unterstützen, wo eine mit Obdachlosigkeit einhergehende besonders prekäre humanitäre Notlage drohen könnte?
15. Wie viele Räumungsklagen sind durch das Gericht dem Sozialamt oder dem Jobcenter seit Anfang 2015 gemäß „Mitteilungen über Klagen auf Räumung von Wohnraum bei Zahlungsverzug des Mieters“ (Anordnung über Mitteilungen in Zivilsachen) in Bremerhaven monatlich mitgeteilt worden?
16. Sind dem Senat Fälle von illegaler ‚Entmietung‘ bekannt, d.h. von Versuchen, Betroffene zum Auszug zu drängen, z.B. indem Strom/Wasser/Gas abgestellt werden oder der Zugang zur Wohnung unterbunden wird?
17. Kann ein faktisches Arbeitsverhältnis, auch wenn dies ohne formales Arbeitsverhältnis mit dem Betrieb oder ohne Verleihberechtigung des Unternehmens erfolgte, mit dem der Arbeitsvertrag bestand, einen Anspruch auf Entlohnung durch den Betrieb, einen Anspruch auf aufstockendes Arbeitslosengeld und/oder ein Aufenthaltsrecht begründen? Ist dies in den Fällen geprüft worden, wo Betroffenen durch das Jobcenter Bremerhaven Leistungen gestrichen und/oder zurückgefordert wurden?
Stand des Ermittlungsverfahrens und strafprozessuale Maßnahmen
18. Mit welchen personellen Kapazitäten arbeiten jeweils die Ortspolizeibehörde, das LKA (Direktion Kriminalpolizei) und die Staatsanwaltschaft an dem Ermittlungsverfahren? Werden diese Kapazitäten angesichts der absehbar zeitaufwendigen und personalintensiven weiteren Ermittlungsschritte als ausreichend bewertet?
19. Wann wurden die Durchsuchungsbeschlüsse gegen die Beschuldigten von der Staatsanwaltschaft beantragt, wann vom Gericht beschlossen und wann vollstreckt?
20. Ist es zutreffend, dass eine hohe sechsstellige Summe, die mutmaßlich im Zusammenhang mit dem Sachverhalt steht, ins Ausland transferiert werden konnte? Wurde versucht, eine Vermögenssicherung und -abschöpfung wie bei Ermittlungen im Bereich der Organisierten Kriminalität durchzuführen? Was hat eine Vermögenssicherung und -abschöpfung verhindert?
21. Ist es zutreffend, dass sich der Hauptbeschuldigte im Ermittlungsverfahren aktuell im Ausland aufhält? Warum wurden keine (z.B. wöchentlichen) Meldeauflagen gegen den Beschuldigten verhängt?
22. Kommt nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen auch ein Verfahren wegen § 233 StGB ‚Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft‘ in Betracht?
Arbeitsverhältnisse und Gewerbeaufsicht
23. Was genau sind die Zuständigkeiten der verschiedenen Landes- und Kommunalbehörden im Land Bremen, die mit der Beaufsichtigung von Unternehmen befasst sind (Gewerbeaufsicht, Ordnungsämter, Gewerbeämter)? Welche personellen Ressourcen stehen dafür auf Landes- und Kommunalebene zur Verfügung?
24. Mit welcher Häufigkeit und in welcher Weise werden Betriebe in Bremerhaven und in Bremen durch Organe der Gewerbeaufsicht oder das Gesundheitsamt kontrolliert?
25. Welche gewerblichen Kontrollen sind in den letzten fünf Jahren beim ABI und den anderen beteiligten Vereinen durchgeführt worden? Mit welchem Ergebnis?
26. Nach welchen Kriterien erfolgt eine Risikoeinstufung der Betriebe? Als wie kontrollintensiv werden dabei Betriebe der Hafen- und Werftwirtschaft eingestuft, wie die Betriebe der Bauwirtschaft?
27. Welche Maßnahmen sind aus der Feststellung im Bericht von März 2014 (Deputationsvorlage 95/14) gefolgt, wonach es „Anlass zur Annahme“ gebe, dass „im Hintergrund Vermittler und Auftraggeber an der allgemeinen Lebenssituation der Menschen verdienen, indem sie sie in ausbeuterischer Weise beschäftigen bzw. dieser Beschäftigung zuführen“? Welche Ergebnisse hatten diese Maßnahmen?
28. Gibt es für Betroffene, die „in ausbeuterischer Weise beschäftigt bzw. dieser Beschäftigung zugeführt“ werden, staatliche Stellen, an die sie sich wenden können? In welcher Weise (und in welchen Sprachen) wird dies öffentlich bekannt gemacht? Sind Dolmetscherdienste gewährleistet? Welcher Schutz wird Betroffenen dabei gewährleistet, insbesondere angesichts der persönlich negativen Folgen, die sich aus der Aufdeckung der illegalen Beschäftigung ergeben können?
29. Haben sich HinweisgeberInnen in den Jahren 2014-2016 an staatliche Stellen in Bremerhaven oder im Land Bremen gewandt mit Informationen zu ausbeuterischer Beschäftigung oder Arbeitszuführung durch das ABI oder andere Vereine, gegen die jetzt ermittelt wird?
Nelson Janßen, Kristina Vogt und Fraktion DIE LINKE.